Wer glaubt denn sowas?

 

Ein nackter Mensch liegt rücklings auf einem Steinblock. Vier Priester halten ihn an Armen und Beinen fest, sodass er gestreckt daliegt. Ein fünfter Priester schneidet ihm mit einem Steinmesser den Brustkorb auf, reißt das noch schlagende Herz heraus und hält es der Sonne entgegen. Dieses grausige Ritual haben Azteken des Mexica-Volkes den Überlieferungen zufolge täglich inszeniert. Jährlich sollen 10.000 bis 20.000 Menschenopfer auf diese Weise dem Sonnengott Tonatiuh dargebracht worden sein. Dieser sollte so gestärkt werden, damit auch am jeweils nächsten Tag die Sonne wieder aufgehen möge. Man fürchtete offenbar, die Sonne könne eines Tages nicht am Horizont erscheinen – was den Untergang der Welt bedeuten würde.

Nicht nur bei den Azteken waren Menschenopfer üblich. Die Geschichtsschreibung bezieht sich auf zahlreiche Quellen, die auf Menschenopfer quer durch die Jahrtausende und die Regionen der Welt hinweisen. In China gefundene geöffnete Schädel lassen dortige Menschenopfer bereits vor 350.000 Jahren vermuten. In der europäischen Antike berichteten Römer über Kinderopfer in Phönizien und Karthago. Aber auch den Römern selbst und ebenso den Griechen war es nicht fremd, Menschen zu töten, um sie den Göttern darzureichen. Erst im Jahr 97 v. Chr. verbot ein Beschluss des römischen Senats das Opfern von Menschen. Damit unterschieden sich die Römer dann von den „Barbaren“ wie Germanen, Kelten, Normannen.

Während etwa die Azteken oder die Germanen gefangene Feinde ihren Göttern darboten, die Römer Betrüger und Verbrecher den Göttern überließen, kennt das antike Judentum die Opferung der Erstgeburt von Mensch und Tier. Das Menschenopfer durfte allerdings nicht ausgeführt, sondern musste durch ein Tieropfer ersetzt werden. Überhaupt wurden im Lauf der Zeit menschliche durch tierische Opfer ersetzt. Dies dürfte der Hintergrund der biblischen Erzählung über die gerade noch verhinderte Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham sein (Gen 22).

Vermutlich hat die jüdische Religion mit Menschenopfern Schluss gemacht, indem sie die Beschneidung einführte. Die männliche Vorhaut hinzugeben, mag hygienisch zu begründen sein, ist aber wohl auch als symbolisches Opfer zu verstehen: Statt des ganzen Körpers wird ein Teil davon (pars pro toto) geopfert.

Immer geht es darum, einen Gott, eine Göttin, mehrere oder auch alle in der eigenen Glaubenswelt vorkommenden Götter bei guter Laune zu halten. „Ich gebe, damit du gibst“, war die Devise der Römer. Es ging also um einen Handel, wie er unter Menschen üblich war. Man könnte ihn auch als Bestechungsversuch bezeichnen.

Woher aber nahmen Menschen überall in der Welt und zu allen Zeiten die Gewissheit, dass es den jeweiligen „Handelspartner“ überhaupt gab und dass der Bestechungsversuch Aussicht auf Erfolg hatte?

Für den christlichen Glauben ist die Frage schnell beantwortet. Die Christenheit versteht ihre „Heilige Schrift“, die Bibel, als „Gottes Wort“. Gott selbst hat also nach dieser Überzeugung die Grundlagen für den Glauben gelegt. Freilich behaupten auch strenggläubige Christen nicht, Gott habe die Bibel persönlich geschrieben, aber nach verbreiteter Auffassung waren die Verfasser der Texte von Gott, vom Heiligen Geist, inspiriert. Es handelt sich um eine Sammlung von Texten unterschiedlicher Herkunft. Den schriftlich festgehaltenen Berichten, Erzählungen, Psalmen und sonstigen Werken ist eine teilweise sehr lange mündliche Überlieferung vorausgegangen. Daraus sind auch Schriften entstanden, die nicht für wert befunden wurden, in die Bibel aufgenommen zu werden – einige wurden sogar bekämpft und verboten.

In einem langwierigen Prozess wurde festgelegt, welche Texte als mit der kirchlichen Lehre übereinstimmend zu gelten hatten. Allen Schriften wurde unterstellt, vom Geist Gottes inspiriert zu sein. Ob das anerkannt wurde, hing davon ab, welche Glaubensströmung sich durchsetzen konnte. Es war eine Frage der Macht.

Hinsichtlich der Grundlagen (sprich: eines möglichen Wahrheitsgehalts) unterscheidet sich der christliche Glaube nicht von dem der Azteken des Mexica-Volkes.